Stören Wassersportler die Natur? Diese Frage rückt im Zuge der EU-Biodiversitätsstrategie 2030 und des neuen Gesetzes zur Wiederherstellung der Natur zunehmend in den Vordergrund. Besonders der windgetriebene Boardsport – also Kitesurfen, Windsurfen, Wingfoilen und Stand-Up-Paddling (SUP) – steht im Fokus, wenn es um den Schutz von Seegraswiesen, Küstenvögeln und Flachwasserzonen geht. Der folgende Beitrag ordnet die Debatte sachlich ein, beleuchtet die unterschiedlichen Perspektiven und zeigt Wege für einen verantwortungsvollen Ausgleich zwischen Schutz und Nutzung auf.
EU-Rahmen: Schutz und Wiederherstellung – aber mit Augenmaß
Mit der EU-Biodiversitätsstrategie 2030 sollen mindestens 30 % der Land- und Meeresflächen Europas unter Schutz gestellt werden. Mindestens 10 % davon sollen „streng geschützt“ sein – also möglichst unbeeinträchtigt von menschlicher Nutzung. Ergänzend verpflichtet das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur die Mitgliedstaaten dazu, degradierte Lebensräume – etwa Seegraswiesen und Flachwasserökosysteme – bis 2050 in einen guten Zustand zu versetzen.
Das ist ein ehrgeiziges, richtiges Ziel.
Doch entscheidend ist, wie diese Vorgaben umgesetzt werden. Die EU schreibt ausdrücklich Einzelfallprüfungen vor – pauschale Nutzungsverbote sind nicht vorgesehen. Ob und wo Freizeitnutzungen eingeschränkt werden, sollen die Mitgliedstaaten differenziert entscheiden.
Kernbotschaft: Schutz ja – aber auf Basis von Daten, nicht Dogmen.
Nationale Umsetzung: Bestehende Schutzgebiete, aber wenig Differenzierung
Deutschland erfüllt die 30 %-Vorgabe formal bereits durch seine bestehenden Nationalparks, Natura 2000-Gebiete und Naturschutzgebiete. Neue Flächen sind also kaum nötig – wohl aber eine Präzisierung der Nutzungsregeln innerhalb dieser Gebiete.
Hier entstehen aktuell die Konflikte: Während Naturschutzverbände auf Rückzugsräume drängen, fordern Wassersportler klare, faire und nachvollziehbare Regeln. Häufig fehlen belastbare Daten darüber, wo Nutzung tatsächlich schadet – und wo sie sich problemlos mit den Schutzzielen vereinbaren lässt.
Kernbotschaft: Schutzgebiete allein bringen nichts, wenn sie nicht praktikabel gemanagt werden.
Stören Kiter, Surfer, Foiler und SUP-Fahrer die Natur?
Sicht der Naturschützer
- Seegraswiesen gelten als Kinderstube vieler Meeresarten und temporärer CO2-Speicher. Sie sind sensibel gegenüber physischer Störung. Kritisch gesehen werden vor allem Start- und Landezonen im seichten Wasser, wo Finnen, Füße oder Anker Pflanzen beschädigen könnten.
- Vogelarten (im Winterhalbjahr besonders die in der Ostsee überwinternden) reagieren sensibel auf häufige Bewegung. Windgetriebene Sportarten fallen geraten hier besonders in den Fokus.
Sicht der Wassersportler
- Die allermeisten Aktiven sind naturbewusste Nutzer, die Wellen, Wind und Wetter lesen können – und dadurch automatisch nur unter passenden Bedingungen aufs Wasser gehen.
- Kitesurfen und Wingfoilen finden meist in Wassertiefen über 1 m statt, bei denen der Grundkontakt minimal ist. Die Foils schweben weit über den Pflanzen, und dicht bewachsene Seegrasfelder werden ohnehin gemieden, weil sie Material und Fahrverhalten beeinträchtigen.
- Windsurfer und SUP-Fahrer bewegen sich häufiger im Flachwasser, verursachen aber laut Studien keine nennenswerten Schäden, solange sensible Startzonen gelenkt und klar ausgewiesen sind.
Fehlende Datenlage – ganz besonders beim Wingfoilen
Zur tatsächlichen Wirkung des Wingfoilens auf Seegraswiesen gibt es bislang keine belastbaren wissenschaftlichen Studien – weder in Deutschland noch international.
Das bedeutet nicht, dass es keine Wirkung gibt, sondern dass das Thema bisher nicht prioritär erforscht wurde. Die vorhandenen Erkenntnisse stammen überwiegend aus älteren Untersuchungen zu Windsurfen, Kiten oder Bootsnutzung.
Ein Beispiel liefert das Gutachten Orther Bucht (GFN, 2020):
Dort wurden die Unterwasservegetation und die Nutzung durch Surfer und Kiter auf Fehmarn untersucht. Das Ergebnis war eindeutig: Bei der aktuellen Nutzung entstanden keine signifikanten Schäden an Makrophyten. Nur an häufig genutzten Start- und Landezonen wurden geringe lokale Veränderungen festgestellt, die sich durch einfache Lenkungsmaßnahmen vermeiden lassen.
Ein weiterer wichtiger Befund stammt aus Dänemark: Das COWI-Gutachten (2013) zur Evaluierung des dortigen Nationalparks Wattenmeer untersuchte die Auswirkungen von Kitesurfen auf Seevögel und sensible Küstenhabitate. Das Ergebnis: Kitesurfer verursachen keine nachweisbaren Störungen der Brut- und Rastvögel, sofern Mindestabstände zu Kolonien und Ruhezonen eingehalten werden. Die Studie kam zu dem Schluss, dass gezielte Lenkung – nicht Verbote – das wirksamste Instrument zum Schutz empfindlicher Arten ist.
Diese Erkenntnisse sind übertragbar: Auch in Schleswig-Holstein zeigt sich, dass Nutzung und Schutz bei klaren Regeln miteinander vereinbar sind.
Kernbotschaft: Für Wingfoilen und Kiten fehlen Detailstudien – für verwandte Sportarten zeigen die Daten aber: Keine flächigen Schäden, keine systematische Beeinträchtigung.
Vorsorgeprinzip oder Verbotskultur?
Behörden greifen bei unklarer Datenlage gern auf das Vorsorgeprinzip zurück: Im Zweifel wird gesperrt, um Risiken vorzubeugen. Dieses Prinzip ist legitim, verliert aber Akzeptanz, wenn es ohne wissenschaftliche Grundlage angewandt wird.
Viele Wassersportler erleben derzeit eine Art Sippenhaft: Pauschale Verbote treffen alle Nutzer, obwohl die Belastung minimal ist – während nachweislich schädlichere Einflüsse (Eutrophierung, Schleppnetzfischerei, Baumaßnahmen) oft unberührt bleiben.
Kernbotschaft: Vorsorge darf kein Vorwand für Symbolpolitik sein.
Was schützt wirklich?
1. Einzelfallprüfung statt Pauschalverbot
Nicht jede Bucht, jeder Spot, jede Jahreszeit ist gleich. Wo Rastvögel regelmäßig vorkommen oder Seegras flächig wächst, kann eine saisonale Begrenzung sinnvoll sein. Anderswo sind ganzjährige Nutzungen problemlos möglich.
2. Lenkung statt Sperrung
Markierte Start- und Landezonen, Zugangsrouten außerhalb dichter Seegrasfelder und Absprachen mit Vereinen und Schulen sind in der Praxis wirksamer als Verbote. Sie schaffen Klarheit, Sicherheit und Akzeptanz.
3. Mooring-Bojen statt Ankerverbote
Das pauschale Ankerverbot schützt zwar Pflanzen, verhindert aber nautische Nutzung. Internationale Erfahrung zeigt: Mooring-Bojen bieten bis zu 75 % besseren Schutz für Seegras – bei gleichzeitig sicherem Festmachen für Boote und Surfer.
4. Monitoring & Citizen Science
Statt pauschal zu verbieten, sollte die Nutzung wissenschaftlich begleitet werden: Drohnenaufnahmen von Seegrasfeldern, GPS-basierte Aktivitätsdaten, Beobachtungen zu Vogelreaktionen. Vereine, Tourismusbetriebe und Wassersportverbände können aktiv mithelfen.
5. Transparente Kommunikation
Verordnungen, Karten, Apps und Tafeln müssen leicht zugänglich sein – mehrsprachig, verständlich, aktuell. Fehlende Information schafft Unsicherheit; Klarheit schafft Akzeptanz.
Realistische Einschätzung des Einflusses
Aktuelle Erkenntnisse – auch aus der limnologischen Freizeitforschung – ordnen die Störwirkung von Wassersportarten im Vergleich zu anderen Umweltfaktoren als gering bis marginal ein.
Eutrophierung, Klimawandel, Flächenversiegelung und industrielle Einflüsse überlagern den Effekt menschlicher Freizeitnutzung um ein Vielfaches. Dennoch gilt: Jeder Beitrag zählt – auch der der Boardsportler.
Fazit: Verantwortung statt Verbote
Kitesurfer, Windsurfer, Wingfoiler und SUP-Fahrer sind keine Gegner des Naturschutzes, sondern Teil der Lösung. Wer den Wind liest, achtet auch auf das Wasser darunter.
Die EU-Ziele für den Meeresschutz sind wichtig – aber sie dürfen nicht zu einem Ausschluss führen, der Naturerlebnis und Umweltbewusstsein voneinander trennt.
Ein nachhaltiger Umgang gelingt nur gemeinsam:
- mit Wissenschaft statt Bauchgefühl,
- mit Lenkung statt Sperrung,
- mit Verantwortung statt Schuldzuweisung.
Wassersportler schützen, was sie lieben –
und sie sind bereit, das zu beweisen.
Quellen
- Europäische Kommission (2020): Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – EU-Biodiversitätsstrategie für 2030 – Mehr Raum für die Natur in unserem Leben. https://eur-lex.europa.eu/resource.html?uri=cellar:a3c806a6-9ab3-11ea-9d2d-01aa75ed71a1.0002.02/DOC_1&format=PDF
- Europäisches Parlament (2024): Verordnung (EU) 2024/1991 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Wiederherstellung der Natur und zur Änderung der Verordnung (EU) 2022/869. https://data.consilium.europa.eu/doc/document/PE-74-2023-INIT/de/pdf
- GFN – Gesellschaft für Freilandökologie und Naturschutzplanung mbH (2020): Unterwasservegetation und Wassersport – Konfliktanalyse am Beispiel Orther Bucht (Fehmarn). Nicht online veröffentlicht; verfügbar über die Stadt Fehmarn, Abteilung Umwelt & Bauen, auf Anfrage bei den Wassersportverbänden oder hier auf nationalpark-ostsee.de.
- COWI A/S (2013): Kitesurfing and Bird Disturbance in the Danish Wadden Sea. Danish Nature Agency, Copenhagen. https://naturstyrelsen.dk/media/nst/Attachments/Kitesurfing_and_bird_disturbance_in_the_Danish_Wadden_Sea_COWI_2013.pdf
- Deutsche Stiftung Meeresschutz (2023): Seegraswiesen – Lebensraum, CO₂-Speicher und Wellenbremse der Meere. https://www.stiftung-meeresschutz.org/foerderung/seegraswiesen-seegras-renaturierung/
- Schafft, M., Nikolaus, R., Matern, S., Radinger, J., Maday, A., Klefoth, T., Wolter, C., Arlinghaus, R. (2024): Impact of water-based recreation on aquatic and riparian biodiversity of small lakes. Journal for Nature Conservation, 78 (2024) 126545. https://doi.org/10.1016/j.jnc.2023.126545
- WWF Deutschland (2022): Seegraswiesen – Mikrokosmos im Meer. https://www.wwf.de/themen-projekte/meere-kuesten/seegraswiesen-mikrokosmos-im-meer
